Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend Dem Alter weicht,
blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hermann Hesse
Er schrieb das Gedicht 1941 nach langer Krankheit.

Stufen: Ausgewählte Gedichte (insel taschenbuch)

In welchen Anfängen hast Du schon einen Zauber verspürt? Was klingt bei Dir an, wenn Du dieses Gedicht liest? Danke, wenn Du es hier teilen möchtest!

4 Gedanken zu “Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

  1. Lieber Axel ,sehr schön und auch sehr treffend für mich ist das Gedicht von Hesse und auch das Bild in seiner Weite und Offenheit gefällt mir sehr ,danke . Danke auch Dir ,Ingeborg , für das intensive und tiefe Gedicht . Meine Neuanfänge sind nichtmehr so spektakulär , eher dieses immer wieder neu nach Abschieden und Verlusten ,neue kleine und grössere Gewinne dabei , dankbar wahrgenommen mit Freude und Erstaunen über das Meer der Möglichkeiten und Heilungen .
    Euch allen Segen und Erfüllung im Neuen Jahr
    Brigitta

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  2. Ich liebe dieses Gedicht von Hesse sehr, es ist immer wieder stimmig und regt zu Meditation an … Es gab so manchen not-wendigen Neubeginn in meinem Leben, teils mit starken Einschnitten. Viel Gutes ist letztlich entstanden, für das ich dankbar bin, besonders, wenn ich ab und zu aus gegebenem Anlass auch mal zurückblicke. So wie in diesen letzten Stunden eines weltweit schwierigen und oft so unguten Jahres … Eben stiess ich auf ein kleines Gedicht, das ich 1969 schrieb und gerne hier einfügen möchte :

    Es fiele schwer …

    Wenn da
    nicht Glaube
    und Hoffnung wären,
    dass am Ende
    dieses finstren, langen Ganges
    das Licht steht,
    dass aus allen Nebeln
    dann
    die Sonne bricht
    und goldene Flut
    sich über das Leid
    ergießt –
    es fiele schwer,
    dem Leben Vorrang
    zu geben
    vor dem Tod.

    (22.8.1969)

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  3. Ein neuer Anfang war es für mich vor zwei Jahren, als wir mit unserer Praxis in einen Neubau umzogen. Zwei Jahre hatten wir zusammen mit unserem Team geplant, mit den Architekten um die beste Lösung gerungen. Davor gab es schlaflose Nächte: das lange bewährte wirklich hinter sich lassen und einen Neuanfang mit Ende 50 wagen? Dann die Entscheidung es zu wagen und alle brachten sich ein und packten mit an. Eine ungeheure Energie beflügelte uns alle. Und dieser neue Anfang hat viel Altes, Verstaubtes hinter sich gelassen und jeder neue Tag in der hellen, geräumigen Praxis ist wiederum ein Anfang. Rückblickend kommt es mir vor wie ein Zauber, etwas nicht Greifbares, nicht Manifestes, was uns beflügelt und getragen hat.
    Den Mut haben, Altes hinter sich zu lassen, sich auf das Wagnis des Neuen einlassen hat sich in vielen weiteren Begebenheiten für mich immer wieder bewährt. Wie Hesse es schreibt, „droht Erschlaffen“, wenn wir es uns zu bequem machen. Auch bin ich überzeugt, dass neugierig bleiben dazu beiträgt Körper und Geist jung zu erhalten.
    Wie schön hat Hesse es in Worte gefasst: Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.

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    1. Ich mag das Gedicht auch sehr – oft, wenn ich neue Menschen, neue Länder und Kulturen,neue Landschaften, neue Musik kennenlerne, empfinde ich diesen Zauber. Jedoch würde ich gerne die Worte „in Tapferkeit und ohne Trauern“ streichen – Trauer ist wichtig und braucht ein Ventil – aber das wissen wir ja alle….
      Das Gedicht von Ingeborg finde ich sehr anrührend,fein….
      Danke Dir,liebe Ingeborg,danke lieber Axel ( auch für das wunderbare Foto) und Euch allen ein segensreiches Neues Jahr voller schöner Augenblicke!
      Barbara

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